Das Kriegsende 1945 in Fellbach: Befreiung oder Niederlage?
(niedergeschrieben 1994 auf Anfrage von Dr. Beckmann, Stadtarchiv Fellbach, anläßlich der bevorstehenden 50. Wiederkehr der Ereignisse 1945)
Am 22. April 1945, einem Sonntag, war für Fellbach der 2. Weltkrieg zu Ende. Ich war 16 Jahre alt, Oberschüler, und wohnte damals bei meinen Großeltern in der Auberlenstraße. Drei Wochen vorher war ich aus Borna bei Leipzig, wo ich mich fünf Monate lang bei meiner dort berufstätigen Mutter aufgehalten hatte, krank nach Fellbach zurückgekommen. (Warum ich in Borna war, werde ich noch erklären.) Der Arzt stellte Gelbsucht fest, und ich musste 14 Tage im Bett bleiben. Nachdem ich wieder aufstehen konnte, ging ich am Sonntagmorgen zum Treffpunkt meiner Freunde, zum damaligen Adolf-Hitler-Platz. Plötzlich hörten wir vom Kappelberg her Maschinengewehrfeuer, das nach einer Weile wieder verstummte. Daß Fellbach in der Nacht zuvor aus Richtung Waiblingen von Artillerie beschossen worden war, hatte ich im Schlaf nicht gehört. Der Einmarsch der Amerikaner vollzog sich aber sonst kampflos. Schon am Freitag hatte sich bei uns in der Bahnhofsumgebung herumgesprochen, daß das Büro der NSDAP-Ortsgruppe Nord von den Funktionären verlassen worden sei: sie waren in der Nacht zuvor wie die übrigen Funktionäre aus Fellbach geflohen. Ich empfand Erleichterung, denn ich hatte mich nach meiner Rückkehr aus Sachsen bei der HJ-Führung weder zurück- noch krankgemeldet. ( Ich gehörte ja zum “Volkssturm”, in Borna hatte ich noch an einer dreitägigen “Ausbildung” teilnehmen müssen.) Was würde geschehen, wenn man mich beschuldigte, mich nicht dem Fellbacher Volkssturm angeschlossen zu haben? Ich wusste, wie schnell man, egal welchen Alters, eines schweren Verbrechens beschuldigt und mit unerbittlicher Härte bestraft werden konnte. In unserer Nachbarschaft hatte sich etwa zwei Jahre zuvor folgender Fall ereignet: Ein Gärtnerssohn, etwas älter als ich, hatte aus Wut im Garten der Eltern eines Mädchens, das die Annäherungen des in sie verliebten Jungen zurückgewiesen hatte, mehrere Bäume beschädigt. Er kam in eine Jugendstrafanstalt (unter uns “Jugend-KZ” genannt). Nach einiger Zeit wurde den Eltern mitgeteilt, ihr Sohn sei tot. Man vermutete, daß der Junge sich “renitent” verhalten habe und an schweren Misshandlungen gestorben sei. Ein anderes Beispiel war der Fall meines Jugendfreundes Horst G., in den ich selbst verwickelt war. Darüber später.
Erleichterung über das Ende der Nazi-Zeit, auch ein Gefühl der Befreiung, empfand ich im Zusammenhang damit, daß meine Familie all die Jahre aktiv am Leben der katholischen Pfarrgemeinde Fellbach teilgenommen hatte. 1938, ich war neun Jahre alt, ging ich an einem Montagmorgen meinen gewohnten Weg zur Schule. Da las ich auf dem Gehweg entlang der Bahnhofstraße bis zur Lutherkirche hinauf und von dort bis zur Horst-Wessel-Schule alle fünfzig Meter in roter Farbe den Satz: “Pfarrer Sturm – Landesverräter.” Unser Pfarrer war nach der Volksabstimmung im April über den Anschluss Österreichs an Deutschland, an der er nicht teilgenommen hatte, am späten Sonntagabend von SA-Leuten brutal geschlagen und in der Stadt herumgeschleppt worden. Mit zehn Jahren wurde ich Ministrant und gleichzeitig “Pimpf”, so nannte man die zehn- bis vierzehnjährigen Jungen, die im sogenannten “Jungvolk” jeden Mittwochnachmittag “Dienst” hatten. Dieser “Dienst” bestand darin, daß wir in der Ideologie der Partei unterrichtet wurden, daß wir Marschlieder lernen mussten und militärisch gedrillt wurden (Antreten in Dreierreihen, Marschieren). Bei den Schulungen mokierten sich unsere Jungvolk”führer” immer wieder über die katholischen Priester: ihre Ehelosigkeit, ihre schwarze Kleidung, wobei besonders die bis zum Boden reichende, rockähnliche Soutane als weibisch verspottet wurde. (Ein Buch, das die Diskriminierung der Priester, Mönche und Nonnen zum Ziel hatte, war der üble “Pfaffenspiegel”.) Es wurde uns gesagt, die byzantinischen Messgewänder, die Bekreuzigung, das Weihwasser und die Kniebeuge widersprächen dem “gesunden deutschen Volksempfinden”. Wir wußten, daß nach dem “Endsieg” die katholische wie auch die evangelische Kirche abgeschafft werden sollten. Der Bischof von Rottenburg, Johannes Baptista Sproll, war jahrelang in der Verbannung im bayrischen Bad Krumbad. Von dort schrieb er seine “Hirtenbriefe” an die Gemeinden der Diözese, die an vielen Sonntagen von der Kanzel verlesen wurden.
Obwohl nun dieser Druck von uns gewichen war, wussten wir doch nicht recht, ob wir frei waren. Was würden die Sieger mit uns machen? Was würde aus Deutschland werden? Vor den Amerikanern hatten wir eigentlich keine Angst. Von ihnen hatte man im Gegensatz zu den einmarschierenden russischen Truppen nichts Schlimmes gehört. Man hatte in der Schule Englisch gelernt, Bücher wie die von Karl May oder Hans Domin hatten einen im Geiste nach Nordamerika geführt, in den abenteuerlichen “Wilden Westen” oder in die Großstädte; der Läufer Jesse Owens, der Boxer Joe Louis waren berühmt, und viele Deutsche hatten Verwandte in den Vereinigten Staaten. Aber freuen konnte man sich trotzdem nicht und die Amerikaner als Befreier begrüßen.
Im kindlichen Alter hatten mich die militärischen Demonstrationen der deutschen Wehrmacht, Luftwaffe und Marine begeistert, wenn am Sonntag im Kino vor dem Hauptfilm “Die Deutsche Wochenschau” anlief. Generalfeldmarschall Rommel und die Soldaten des Afrika-Korps, um nur dieses eine Beispiel zu nennen, waren neben anderen für mich Helden gewesen. Und nun der Anblick der kleinen, versprengten, müden Trupps deutscher Soldaten, die vor den Siegern fliehend durch Fellbach zogen. Das machte die Niederlage deutlich, und die Alliierten traten als Sieger auf. Den Schuldigen an der Zerstörung Deutschlands sahen in diesen Tagen viele noch nicht in Adolf Hitler. Die Versager waren einige der anderen “Größen” des Dritten Reiches, Hermann Göring vor allem, dessen Korpulenz und Ordensschmuck ihn schon lange zur Witzfigur gemacht hatten und der sich nun in der Endphase des Krieges vollends lächerlich gemacht hatte, weil trotz seiner prahlerischen Reden die deutsche Luftwaffe buchstäblich am Boden zerstört und zerbombt war. Auch die Wirkung des Propagandaministers Goebbels hatte nachgelassen, seine Tatsachenverdrehungen, theatralische Rhetorik und sein hinkender Gang wurden bei Gelegenheit in komödiantischem Leichtsinn parodiert: “Wenn die Engländer und Amerikaner behaupten, ich hätte einen Klumpfuß, ist dies eine infame Lüge und beruht lediglich auf Mitteln der Propaganda.” Was die Freude über die Befreiung außerdem dämpfte, war der leise vorhandene Zweifel, ob der Krieg wirklich verloren war oder ob nicht doch noch die verheißene Wunderwaffe V3 zum Einsatz käme. Sicher fühlten wir uns noch nicht, und zur Sicherheit gab es in den ersten Wochen ohnehin keine. Es war eine Zeit der Wirren. Ich erfuhr, daß das Ende eines Krieges Chaos bedeutet.
Eine neue Bedrohung entstand: Die in der Ziegelei wie in einem Lager eingesperrten russischen Zwangsarbeiter, achthundert an der Zahl brachen aus und zogen in Rotten plündernd durch die Stadt. Sie eigneten sich Waffen an, welche die Einheimischen zuvor auf Befehl der Besatzungsmacht in Sammelstellen abgegeben hatten. Sie töteten insgesamt 12 Deutsche, aus Rache oder weil sie nicht sofort bekamen, was sie wollten. Im nördlichen Stadtgebiet sprach es sich schnell herum, daß es in einem Wohnhaus bei der Ziegelei und in der Gärtnerei Schönemann einen Toten gegeben hatte. In der Woche nach der Besetzung hörten wir draußen in der Auberlenstraße ein vielstimmiges Rufen: “Männer heraus!” Wir öffneten die Fenster und sahen eine größere Gruppe Fellbacher Männer mit weißen Armbinden und Prügeln in der Hand, angeführt von Stadtamtmann Steimle. Sie gingen schnellen Schrittes durch die Auberlenstraße und bogen bei der Esslingerstraße um die Ecke. Es war uns gleich klar, daß es eine Aktion zur Selbstverteidigung gegen die Plünderer war. Mein 64-jähriger Großvater bewaffnete sich ebenfalls mit einem Gegenstand und eilte ihnen hinterher. Ich folgte ihm und rief besorgt, er solle doch zurückbleiben, er sei doch schon ein älterer Mann. Er ließ sich aber nicht abhalten. So gelangten wir auf das Bahnhofsgelände beim Güterschuppen. Plötzlich flogen uns Steine, Eisenbrocken und andere Wurfgeschosse entgegen. Hinter dem Schuppen hatten sich Russen verschanzt und gingen nun zum Gegenangriff über. Trotz meiner Zurufe blieb mein Großvater bei den Fellbachern, die nun erneut vorstürmten. Beim Alteisenhaufen der Firma Stern und Müller wurden wieder rostige Eisenstücke gegen uns geschleudert, und ich sah, wie ein Fellbacher am Kopf getroffen wurde und stark blutend zu Boden ging. Als ein kleiner Trupp Fellbacher die Gleise überquerte und bis zur Ziegelei vorrückte, drangen Hunderte von russischen Zwangsarbeitern mit Geschrei aus dem Lager heraus. Die Fellbacher wichen vor der Übermacht zurück, aber einige blieben vorne und ließen sich auf den Nahkampf ein, darunter ein älterer Bruder jenes Gärtnersohns, der in der Jugendstrafanstalt umgekommen war. Er war kurz zuvor aus dem Krieg zurückgekommen, trug noch Teile seiner Uniform und hatte eine Pistole dabei. Nach einer Weile sah ich aus der Entfernung, wie ein lebloser Körper von vier Männern auf einer ausgehängten Türe zurückgetragen wurde. Beim Näherkommen erkannte ich, daß es der Kriegsheimkehrer war. Er hatte sich mit der Pistole in der Hand zu weit in die Ziegelei hineingewagt, und die Russen hatten ihm von einem oberen Stockwerk herab einen Ziegelstein auf den Kopf geworfen. Aufgewühlt folgte ich dem traurigen Transport bis in das Elternhaus des Hirnverletzten. Er wurde mitsamt der Tür auf den Tisch gelegt. Ein herbeigeholter Arzt stellte nach kurzer Untersuchung den Tod des jungen Mannes fest. Ich erinnere mich heute noch, wie seine Mutter weinend ausrief: “Jetzt habe ich gar keinen mehr!”
Die Plünderungen gingen weiter. In der Auberlenstraße befand sich neben unserem Haus die Nudelfabrik Dengler, ein kleineres Unternehmen. Die Denglers waren gute Nachbarn. Sie baten uns nun, ihnen zu helfen, die in Kartons verpackten Nudeln aus dem Lagerraum zu entfernen und unter dem Hausdach zu verstecken. Gegen Abend erschien dann tatsächlich eine Gruppe russischer Zwangsarbeiter und rüttelte drohend am verschlossenen Tor. Zum Glück war in den letzten Kriegsjahren eine Russin bei den Denglers beschäftigt gewesen und von ihnen gut behandelt worden. Sie ging ans Tor und verhandelte mit ihren Landsleuten. Schließlich ließen sie sich darauf ein, mit einem Kontingent Nudeln versorgt, abzuziehen. Die Gefahr war aber noch nicht gebannt. Es wurden Nachtwachen eingeteilt, und wir überlegten, wie wir uns gegen Eindringlinge wehren könnten. Im Stillen war uns jedoch klar, daß wir im Ernstfall keine Chance hatten, denn eine deutsche Polizei herbeizurufen war aussichtslos. Neben den Bombennächten im Luftschutzkeller waren diese Stunden des Wartens auf die Russen die schlimmsten Stunden der Angst in meinem Leben.
Am Tag vor dem 1. Mai hieß es, daß zum Internationalen Tag der Arbeit ein Umzug stattfinden würde. Da die Deutschen Ausgangssperre hatten, konnte ich vom Fenster aus nur das kurze Stück der Bahnhofstraße beobachten, wo die Auberlenstraße in sie einmündet. Dort zogen eine Viertelstunde lang all die Hunderte von Russen aus der Ziegelei vorbei, und am Ende des Zuges ein ganz kleines Häufchen deutscher Kommunisten aus Fellbach. Immerhin entspannte dies die Situation merklich.
Während der ganzen Unruhen hatten uns die Amerikaner nicht geholfen. Dafür nahmen sie einige Deutsche fest, die von anderen Deutschen als Nazis angezeigt worden waren. Es handelte sich dabei meist um niedere Chargen des Systems, zum Beispiel Blockwarte. An der Ecke Ludwigsburger- und Auberlenstraße befand sich das villenähnliche Anwesen des Holzhändlers Schwegler. Das Wohnhaus stand zurückversetzt in einem schönen Garten. Gleich in den ersten Tagen der Besetzung hörte ich im Vorübergehen scharfe englische Kommandos. Ich blickte über den Zaun. Da standen in einer Reihe etwa zehn deutsche Männer, die ihre Hände auf den Kopf gelegt hatten. Vor ihnen zielten ein paar amerikanische Soldaten mit Schusswaffen auf sie. Ich war überzeugt, im nächsten Augenblick Zeuge einer Exekution zu werden. Aber die Soldaten ließen die Waffen wieder sinken. Sie hatten den Männern lediglich Angst einjagen wollen. Ich habe nie erfahren, was mit ihnen noch geschah. Sonst verhielten sich die Amerikaner in Fellbach korrekt. Die amerikanische Militärregierung ließ in der folgenden Zeit in Schaukästen Zeitungsmeldungen aushängen, da es keine örtliche Presse mehr gab. So erfuhr man gleich zu Anfang Mai vom Tod Hitlers, der am 30. April Selbstmord begangen hatte. Auch in Fellbach gab es bald ein Büro der Organisation VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes), wo sich Deutsche, die unter dem Regime Unrecht erlitten hatten, in eine Liste eintragen lassen und einen Ausweis in Empfang nehmen konnten. In diese Organisation wurde mein Freund Horst Groß aufgenommen. Er war nämlich im Spätjahr 1944 zu 14 Tagen Jugendgefängnis verurteilt worden und hatte die Strafe verbüßt. Die genaue Anklage kenne ich nicht. Sie ging jedenfalls von “defaitistischen” Äußerungen aus, die Horst beim Westwall-Einsatz der HJ (Hitlerjugend) des “Banns Waiblingen” in der Nähe von Achern gemacht haben soll. (Ein “Bann” entsprach der Größe eines Landkreises.) Der Einsatz bestand darin, daß der Jahrgang 1928/29 zur Verteidigung der Westfront gedachte Schützengräben ausheben musste, was man “schanzen” nannte. Bei dieser Tätigkeit wurden die 15- bis 16-Jährigen immer wieder von Tieffliegern angegriffen. Durch Gebärden und Worte hatte Horst zu erkennen gegeben, daß ihm ein Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland willkommen wäre. Er wurde bei der HJ-Einsatzleitung denunziert und schon in Achern von HJ-Führern mit Spatenstielen so schwer auf den Kopf geschlagen, daß die Haut aufplatzte. Dann wurde er in einem Eisenbahnzug unter Bewachung zur “Kripo” nach Ulm gebracht. (Warum gerade dorthin, weiß ich nicht mehr.) Bevor ihn seine Bewacher der “Kripo” (Kriminalpolizei) übergaben, führten sie ihn nach der Ankunft in Ulm in eine Halle, die mit Hitlerjungen gefüllt war, die ihren „Schanz“-Einsatz am Westwall beendet hatten und verabschiedet werden sollten.
In dieser Halle wurde Horst auf die Bühne gezerrt, als “junger Stauffenberg” beschimpft und kahlgeschoren. Trotz seiner Platzwunden beschmierte man ihm den Kopf mit schwarzer Schuhcreme, während die Menge den Vorgang mit johlendem Geschrei und “Hängt ihn auf!”-Rufen begleitete. Einige Besonnene brachten ihn schließlich aus der Halle heraus und überstellten ihn der Kripo, wo er auf Veranlassung der Beamten endlich ärztlich versorgt wurde. Als ich ihn Wochen später in seinem Elternhaus besuchte, lag er mit einem Kopfverband in einem verdunkelten Zimmer. Er litt unter einer Gehirnerschütterung und war empfindlich gegen Tageslicht. Mit leiser Stimme erzählte er mir die Einzelheiten, soweit ich sie noch nicht von anderen erfahren hatte. Ich selbst war nicht am “Westwall” gewesen.
Schon im Sommer 1944 hatten wir von unseren HJ-Führern erfahren, daß alle Oberschüler der fünften (heutigen zehnten) Klassen im Kreis Waiblingen nach den Ferien am “Westwall” zum “Schanzen” eingesetzt würden. Horst und ich sprachen in unserem Freundeskreis darüber, was uns dort erwarten würde. Wir waren bei den HJ-Führern in Fellbach als “Stenze” bekannt. Sie raunzten uns an, wir sollten unsere “Schmachtlocken” kürzer schneiden lassen, spätestens beim Kommiss würde man uns beibringen, was ein “Streichholzhaarschnitt” sei. Wegen meiner langen Kraushaarfrisur (heute würde man sie Afro-Look nennen) musste ich mir von Erwachsenen herabsetzende Bemerkungen gefallen lassen – einmal sogar im Beisein eines von mir angehimmelten Mädchens. Modemäßig gefielen uns weiße Leinenjacken zu dunklen Hosen außerordentlich. Unser Idol war der Filmschauspieler und Sänger Johannes Heesters, den wir nicht nur in der Kleidung, sondern auch in seinen Bewegungen nachahmten. Unseren Treffpunkt nannten wir in unserem Jargon “d’Scheib” (Scheibe), das war der damalige Adolf-Hitler-Platz. Oft standen wir auch vor dem Fellbacher Lichtspielhaus in der Cannstatter Straße oder vor dem Café Rheingold an der Stuttgarter Straße. Da konnte man uns, Schlager singend und mit schaukelndem Oberkörper tanzend, “swingend”, beobachten. An der Straßenbahnhaltestelle beim Rheingold stiegen meistens am Samstag- oder Sonntagabend ältere Bekannte ein, die schon achtzehn oder älter waren, und erzählten uns vom Hindenburgbau in Stuttgart, den sie besucht hatten, und von den Kapellen (ich glaube nicht, daß wir “Bands” sagten), die sie dort gehört hatten. Infolge unserer eigenen Unvorsichtigkeit war durchgesickert, daß wir (eine kleine Gruppe von vielleicht acht leicht verrückten jungen Leuten) einen “Swing-Club” gegründet und uns ausländische Mitgliedsnamen gegeben hatten. Mein Name im Club war Bela Whitten. Wir trafen uns bei Horst zum Schallplattenhören und “Swingen”, worunter wir jene Tanzbewegungen und Körperzuckungen verstanden. (Einmal fiel ich damit im Bahnhofswartesaal Waiblingen einem SS-Mann auf, dem meine Vorführungen derart missfielen, daß er es für angezeigt hielt, mich überprüfen und gegebenenfalls in eine Erziehungsanstalt einweisen zu lassen. Diese Geschichte habe ich in einer Sendung des Schulfunks erzählt und sie auf eine Hörkassette aufgenommen.) Swing, der Jazz-Stil der dreißiger Jahre, war in Deutschland verpönt und von der Reichskulturkammer verboten worden. Er galt als “amerikanische Negermusik”. Die Schallplatten, die Horsts verstorbener Vater hinterlassen hatte – ein Ingenieur, der viel herumkam – waren wohl deutsche Produkte. Aufnahmen von Louis Armstrong oder Duke Ellington habe ich mit Sicherheit erst nach dem Krieg gehört. Die deutsche “Telefunken Schallplaten GmbH” produzierte noch bis 1941 Aufnahmen mit dem Orchester Kurt Hohenberger, bei dem Fritz Schulz-Reichel am Piano saß und Willy Berking Posaune spielte, aber auch mit skandinavischen, belgischen und holländischen Orchestern. (Letztere spielten öfters im Hindenburgbau und sollen dort den “Tiger Rag” gespielt haben.) Auch die Kapelle Teddy Staufer war uns bekannt. Kurzum, die HJ-Führer versuchten, uns unsere “undeutschen Manieren” mit Strafdienst und “Vorreiten” beim Bannführer in Waiblingen abzugewöhnen. Das bedeutete, daß man mit vorschriftsmäßigem Haarschnitt am Sonntagmorgen in seinem Büro anzutreten hatte. Im Vorfeld des Westwall-Einsatzes kündigte man uns nun bei einem Appell an, daß man uns dort schon “die Hammelbeine langziehen” werde. Da fassten wir “Swing-Heinis” bei einem Treffen einen Entschluss, der für Horst verhängnisvoll werden sollte. Falls man uns am Westwall – weit weg von den Eltern – so schlecht behandeln würde, dass wir es nicht mehr ertragen könnten, wollten wir zu den Franzosen oder Amerikanern überlaufen. Wir zeichneten auf einer Landkarte einen Fluchtweg ein, und Horst nahm diese an sich.
Das Schuljahr 1944/45 begann mit ein paar Wochen Unterricht. Dan wurde uns Ende September befohlen, in Uniform und mit Spaten ausgerüstet in Waiblingen auf einem Schulhof aufgestellt. Es fand ein Appell mit kernigen Ansprachen der obersten Führung des HJ-Bannes statt. Dabei kam die Rede auf gewisse “Typen”, die angeblich “verweichlicht” seien und beim Schanzen nicht gebraucht werden könnten. Sie sollten aber nun nicht denken, daß sie faulenzen könnten: Bei der Kartoffel- und Obsternte im Remstal würden sie Gelegenheit genug bekommen, sich nützlich zu machen. Die Namen wurden verlesen, darunter auch meiner. Wir mussten unter dem Hohngelächter der im Karree aufgestellten Verbände einer nach dem anderen vortreten, wobei aus den Reihen Steine auf uns geworfen wurden. Horst war nicht unter den Aufgerufenen. Vielleicht wollte man uns absichtlich trennen. Dummerweise hatte Horst die Landkarte mit dem Fluchtweg im Tornister. Diese wurde bei der Durchsuchung seines Spinds in Achern von den HJ-Führern gefunden.
Hier endet der Bericht für das Fellbacher Stadtarchiv. Doch zurück zum Anfang: Ich schrieb, daß ich aus Borna zurück nach Fellbach gekommen sei. Warum war ich in Borna in Sachsen? Aus dem Geschilderten geht hervor, daß mein Verhalten in der NS-Zeit nicht ungefährlich war, auch wenn ich mir dessen nicht bewusst war. Ich war kein Widerstandskämpfer, sondern ein junger Mensch, der irrationalen Antrieben folgte – ein “Träumer”. Ich war etwa zwölf Jahre alt, fasziniert von dem Romanhelden Billy Jenkins. Woche für Woche holte ich mir einen Roman über diesen Sheriff aus einem damals existierenden Leihbuchgeschäft in der Bahnhofstraße (vergleichbar den heutigen Videotheken); Ich gründete einen Club, den ich PDSB nannte (Privatdetektive für Spezialbeobachtungen); Ich schwärmte auch für einen Artisten, der aus der Zirkuskuppel im Sturzflug auf ein in der Manege aufgebautes Reck zuflog, es mit den Händen packte und sich noch ein paar Mal um die Reckstange drehte. (Ich wäre fast einmal aus dem ersten Stock unserer Wohnung in der Auberlenstraße auf eine Teppichstange gesprungen, um dies nachzumachen.) Die größte Lust bereitete mir jedoch das Theaterspielen; Das war schon so, als ich ein Kind war und mit meinem Kasperletheater auf der Straße herumzog und andere Kinder als Zuschauer anlockte; meinen ersten Bühnenerfolg hatte ich in einem von der Schwester Oberin einstudierten Schattenspiel im katholischen Gemeindehaus. Mit vierzehn Jahren trat ich der HJ-Spielschar bei, in der ich zu einer Art örtlichem „Star“ aufstieg. Über die Fellbacher Stadtgrenzen hinaus spielten wir in vielen Gemeinden des Kreises Waiblingen den „Krämerkorb“ von Hans Sachs und die „Spitzbubenkomödie“ von Margarethe Cordes. Im Kleinen Haus der Staatstheater wirkte ich als Statist mit. Hinter der Bühne zu stehen, den Schauspielern zuzuhören und sie auf- und abtreten zu sehen, zog mich magisch an.
Auch meine Freundschaft mit Horst Groß entstand nicht nur aus unserer Vorliebe für Swing-Musik, sondern aus unserer künstlerischen Veranlagung. (Horst fing damals an zu malen.) Nach den Ereignissen am Westwall befürchteten meine Großeltern, aus meinem Konflikt mit der HJ könnte sich auch für mich Schlimmeres entwickeln, und vereinbarten mit meiner Mutter, daß sie mich zu sich nehmen sollte. Sie war 1943 mit meiner zehnjährigen Schwester Waltraut nach Sachsen gezogen, um dort ihr eigenes Leben führen zu können. Seit ihrer Scheidung von unserem Vater Karl Welz war sie wieder berufstätig und hatte zunächst bei ihren Eltern Leonhard und Paula Leber gewohnt. Nach einer fehlgeschlagenen Stellung als „Ritterguts-Sekretärin“ arbeitete sie im Büro des Braunkohle-Bergwerks Böhlen südlich von Leipzig und wohnte im Erdgeschoss eines alten Hauses, das man durch einen Hinterhof betreten musste. Weil ich bis zur Schließung der Schulen im Großraum Stuttgart – eine Folge der immer stärkeren Bombenangriffe – die Johannes-Kepler-Oberschule in Cannstatt und ab Herbst 1943 die Horst-Wessel-Oberschule in Waiblingen besucht hatte, war ich in Fellbach bei meinen Großeltern geblieben.
Im Juli/August 1944, kurz nach dem Attentat auf Hitler, brachten wir meinen kleinen Bruder Manfred aus der Ehe meiner Mutter mit Hermann Plapp auf Wunsch zu ihr nach Borna. (Ich verbrachte dort einige Wochen der Sommerferien und las täglich in der Zeitung, wie die Verschwörer, denen die Flucht gelungen war – allen voran Carl Friedrich Goerdeler – fieberhaft gesucht wurden.) Es muß Ende Oktober dieses Jahres gewesen sein, der Westwall-Einsatz war vorbei, der Schulbetrieb war wieder im Gange, als folgendes geschah: Ich erhielt eine Vorladung, am Sonntagvormittag zum Bannführer nach Waiblingen zu kommen. Ich erwartete, wieder einmal wegen meines Aussehens und Verhaltens getadelt zu werden. Stattdessen eröffnete mir der “Gewaltige” in jovialem Ton, er habe eine gute Nachricht für mich. Meine Mutter habe ihm einen Brief geschrieben, der allen Respekt verdiene. Er las mir aus diesem Brief vor, daß sie meine Ernsthaftigkeit und mein Verantwortungsbewusstsein vermisse – Eigenschaften, die man von einem deutschen Jungen in dieser Zeit erwarten müsse – und daß sie nun dafür sorgen wolle, daß ich etwas Nützliches tue. Sie wolle mich deshalb aus der Schule nehmen, zu sich nach Sachsen holen und mich dort in einem Rüstungsbetrieb unterbringen. Dies alles vernahm ich mit ungläubigem Erstaunen. Als ich jedoch den Brief in der Hand hielt, erkannte ich, daß es tatsächlich die Handschrift meiner Mutter war. Später wurde mich klar, daß sie um jeden Verdacht zu zerstreuen, etwa den, ich wolle mich Nachforschungen oder Beobachtungen seitens der HJ-Führung entziehen, zu dieser Finte gegriffen.
Ab Anfang November war ich in Borna und arbeitete natürlich nicht in der Rüstungsindustrie, sondern besuchte die dortige Oberschule. Im Frühjahr 1945 kamen die ersten deutschen Flüchtlingszüge aus dem Osten und wurden im Schulgebäude einquartiert. Der Unterricht ging zunächst noch behelfsmäßig fortgesetzt, jedoch immer wieder durch Fliegeralarm unterbrochen. Die Lage wurde immer ernster: Die Russen drangen nach Schlesien vor. Ich wurde mit den Jungen aus meiner Klasse zu einer “Volkssturm”-Übung eingezogen. In drei Tagen sollten wir lernen, mit dem Maschinengewehr und der Panzerfaust umzugehen. Jetzt hielt meine Mutter die Zeit für gekommen, mich zu den Großeltern nach Fellbach zurückzuschicken. Nach einer dreitägigen Bahnfahrt, die nur etappenweise voranging, mit Verzögerung der Abfahrzszeit infolge Fliegeralarms, während die Passagiere die Bahnhöfe verlißen und in Luftschutzbunkern Zuflucht suchten, mit Tieffliegerangriffen auf die fahrenden Züge, wobei man sich in den nächstbesten Graben warf, erreichte ich schließlich übermüdet und krank mein Ziel. Es war Ende März 1945, etwa drei Wochen vor dem Einmarsch der Amerikaner. Auch Fellbach sollte durch den Volkssturm verteidigt werden (das waren zum einen Teil fünfzehn- bis sechzehnjährige junge Männer, zum anderen Männer über sechzig), aber die Übergabe geschah dann doch kampflos, weil aussichtslos. Ein paar Panzersperren auf der B14 in Richtung Waiblingen wurden errichtet, aber nach Abziehen der nationalsozialistischen Führung wieder abgebaut. Von all diesen Aktivitäten bekam ich wegen meiner Bettlägerigkeit nur das mit, was zu Hause erzählt wurde.